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Mehr als nur Platte: Fünf überraschende Wahrheiten über das Wohnen in Wernigerode
Wer an ostdeutsche Städte denkt, hat oft ein bestimmtes Bild im Kopf: endlose Reihen grauer, uniformer Plattenbauten, die als funktionale, aber seelenlose Zeugen einer vergangenen Ära in den Himmel ragen. Es ist das Klischee der Monotonie, ein architektonisches Erbe, das in vielen Städten nach der Wende entweder mühsam saniert oder gleich ganz abgerissen wurde.
Doch die Geschichte des Wohnens ist nicht überall gleich. In Wernigerode, der „Bunten Stadt am Harz“, erzählt sie eine andere, weitaus komplexere und überraschendere Geschichte. Hier wurde das Erbe der DDR-Moderne nicht einfach beseitigt, sondern auf eine Weise umarmt, transformiert und neu erfunden, die dem stereotypen Bild der „Platte“ widerspricht. Die städtische Gebäude- und Wohnungsbaugesellschaft Wernigerode (GWW) spielte dabei eine entscheidende Rolle, die weit über die eines reinen Vermieters hinausging.
Begleiten Sie uns auf eine Reise durch die jüngere Architektur- und Sozialgeschichte Wernigerodes und entdecken Sie fünf faszinierende Wahrheiten, die zeigen, wie aus Plattenbauten Retter der Altstadt, preisgekrönte Architekturikonen und Stützpfeiler der lokalen Kultur werden konnten.
1. Das Wunder des Bleibens: Warum Wernigerodes Plattenbauten dem Abriss entgingen
Nach der Jahrtausendwende rollte eine beispiellose Abrisswelle durch viele ostdeutsche Städte. Massiver Leerstand führte dazu, dass Zehntausende Plattenbauwohnungen der Abrissbirne zum Opfer fielen. Allein in Sachsen-Anhalt verschwanden zwischen 2002 und 2012 rund 55.000 Wohnungen dieser Art vom Markt – ein Versuch, die schrumpfenden Städte zu stabilisieren.
Wernigerode jedoch widersetzte sich diesem Trend. Während anderswo ganze Straßenzüge verwaisten, wiesen die Bestände der GWW in den Großwohnsiedlungen Burgbreite, Stadtfeld und Harzblick bereits 1999 einen bemerkenswert niedrigen Leerstand von unter drei Prozent auf. Ein Abriss kam hier nie ernsthaft infrage.
Doch wie konnte die Stadt diesem Schicksal entgehen? Ein Gespräch mit zwei Schlüsselfiguren aus der Vergangenheit der GWW, dem ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Andreas Heinrich und ihrem ersten Geschäftsführer Helmut Porsche, offenbart eine Kombination aus klugen Entscheidungen und günstigen Rahmenbedingungen. Die GWW verfolgte eine solide, besonnene Finanzpolitik und führte Sanierungen mit Augenmaß durch, die stets die finanzielle Situation der Mieter berücksichtigten. Gleichzeitig profitierte man von der dynamischen Entwicklung der Stadt selbst, die durch eine starke Industrie und einen prosperierenden Tourismus geprägt war – ein Tourismus, der sein größtes Kapital, eine erhaltene mittelalterliche Altstadt, ironischerweise den am Stadtrand errichteten Plattenbauten verdankte.
Die positive Entwicklung der GWW war tatsächlich einem Mix günstiger Faktoren geschuldet: einer soliden, besonnenen Finanzpolitik der Geschäftsführungen, Sanierungen mit Augenmaß unter Berücksichtigung der Mietersituation, guter Vernetzungen innerhalb der Stadt und der guten Entwicklung der Stadt selbst. – Andreas Heinrich
2. Ein cleverer Schachzug: Wie Plattenbauten die historische Altstadt retteten
Es ist eine der größten Ironien in der Stadtbaugeschichte Wernigerodes: Ausgerechnet der Bau der oft geschmähten Plattenbauten am Stadtrand war der Schlüssel zur Rettung des kostbaren Fachwerk-Ensembles im Stadtkern. Zu verdanken ist dies dem strategischen Weitblick des damaligen SED-Bürgermeisters Martin Kilian.
In den 1960er-Jahren existierten konkrete Pläne des übergeordneten Rates des Bezirkes Magdeburg, Teile des historischen Zentrums abzureißen, um Platz für moderne Plattenbauten zu schaffen. Ein Vorgehen, das andernorts das Gesicht vieler Städte für immer verändert hätte. Bürgermeister Kilian erkannte die Gefahr für das fragile Ökosystem aus jahrhundertealten Balken und entwickelte eine kühne, mehrgleisige Gegenstrategie.
Ohne auf das offizielle „grüne Licht“ aus Magdeburg zu warten, schuf er vollendete Tatsachen. Bereits 1968 ließ er mit den Planierungsarbeiten für das Großwohngebiet Burgbreite am Stadtrand beginnen. Gleichzeitig sicherte er das historische Zentrum, indem er es unter Denkmalschutz stellen ließ und private Sanierungen der Fachwerkhäuser mit günstigen Baukrediten förderte. Damit präsentierte er den Bezirksplanern eine fertige Lösung für den dringenden Wohnungsbedarf und nahm ihnen gleichzeitig jedes Argument für den Abriss der Altstadt. Der Bau der Plattenbauten am Rande der Stadt rettete somit ihr Herzstück – die Fachwerk-Idylle, die Wernigerode heute bei Touristen aus aller Welt so beliebt macht.
3. Von Grau zu preisgekrönt: Die architektonische Neuerfindung der Platte
Die Entscheidung gegen den Abriss war kein passives Bewahren, sondern der Startschuss für eine kreative Neugestaltung. Statt bloßer Fassadensanierung setzte die GWW auf mutige, gestalterische Eingriffe, die das Bild der DDR-Moderne nachhaltig veränderten und sogar nationale Anerkennung fanden.
Ein herausragendes Beispiel ist das „Wellenhaus“ am Walther-Grosse-Ring. Hier transformierte die GWW einen typischen fünfgeschossigen Plattenbau radikal, indem sie die oberen Stockwerke gezielt zurückbaute. Das Ergebnis ist ein markantes, wellenförmiges Dach, das die strenge Sachlichkeit des Originals aufhebt und ihm eine dynamische Silhouette verleiht. Ergänzt durch den Einbau von Aufzügen und die Schaffung neuer Dachterrassen, wurde aus 168 alten Wohnungen ein Komplex mit 93 völlig neu gestalteten Einheiten und einem neuen Wohngefühl. Der Mut wurde belohnt: Das Projekt erhielt die Goldmedaille im bundesweiten Wettbewerb „Energetische Sanierung von Großwohnsiedlungen“.
Ein weiteres Beispiel ist „Das Kastanienwäldchen“ in der Burgbreite. Anstatt einer schlichten neuen Farbgebung wurde die Fassade dieses Wohnblocks nach einem Entwurf des in Wernigerode geborenen Künstlers Ottmar Alt gestaltet. Mit seiner farbenfrohen, verspielten Optik wurde es zu „Wernigerodes buntestem Haus“. Gleichzeitig war dies nicht nur ein kosmetischer Eingriff: Im Inneren wurden die ursprünglichen 50 Wohnungen in 74 kleinere Ein- und Zwei-Raum-Wohnungen umgebaut, um dem modernen Bedarf gerecht zu werden. Diese Projekte beweisen eindrucksvoll, dass das architektonische Erbe der DDR keine Last sein muss, sondern eine Leinwand für kreative und wertsteigernde Stadtentwicklung sein kann.
4. Mehr als nur Miete: Eine Wohnungsgesellschaft als Retter der Kultur
Die GWW definierte ihre Rolle in Wernigerode stets breiter als die reine Wohnungsversorgung. Mit einem tiefen Verständnis für ihre soziale Verantwortung rettete das Unternehmen zwei bedeutsame Kulturorte vor dem Verfall und sicherte damit wichtige soziale Treffpunkte für die Stadt.
Da war zum einen das Traditionskino, die Volkslichtspiele. Als das Kino 2014 vor dem Aus stand, erwarb die GWW das sanierungsbedürftige Gebäude. Doch statt sofort mit einem teuren Umbau zu beginnen, bewies die GWW unternehmerischen Scharfsinn: Eine erste Investition in moderne 3D-Technik und ein neues Soundsystem verdreifachte die Besucherzahlen und bestätigte das Potenzial. Erst dann folgte die umfassende, zweijährige Modernisierung. Seit der Wiedereröffnung erstrahlt das Kino mit drei neuen Sälen und stilvollem Ambiente – ein Magnet für Kinofreunde aus der ganzen Region.
Zum anderen engagierte sich die GWW für den Fürstlichen Marstall. Das historische Gebäude am Fuße des Schlosses, dessen Geschichte von einer Reithalle über eine Tennishalle bis hin zu einem Möbellager reichte, war baufällig. Über einen Zeitraum von 12 Jahren sanierte die GWW den Komplex schrittweise und mit viel Liebe zum Detail. Heute wird der Marstall von der Wernigerode Tourismus GmbH als erstklassiger Veranstaltungsort für Konzerte, Tagungen und Feiern betrieben und ist aus dem Kulturleben der Stadt nicht mehr wegzudenken. Dieses Engagement spiegelt eine klare Philosophie wider, die die ehemalige Geschäftsführerin Kirsten Fichtner treffend zusammenfasste:
Kommunale Gesellschaften sind dafür da, den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Denn viele Menschen sind auf dem freien Markt verloren. – Kirsten Fichtner
5. Auf Schulden gebaut: Das finanzielle Erbe des DDR-Wohnungsbaus
Hinter den Fassaden der DDR-Neubaugebiete verbirgt sich eine wenig bekannte finanzielle Konstruktion, die für ostdeutsche Wohnungsunternehmen nach 1990 zur existenziellen Herausforderung wurde. Der volkseigene Wohnungsbau wurde durch Kredite mit einer Laufzeit von 40 Jahren finanziert.
Der fundamentale Widerspruch dieses Systems lag in den Mieten. Diese waren staatlich auf einem extrem niedrigen Niveau festgesetzt und deckten bei Weitem nicht die Kosten. Es war von vornherein klar, dass die Kredite niemals aus den Mieteinnahmen zurückgezahlt werden konnten. In der Planwirtschaft war das kein Problem, denn die Zins- und Tilgungsbeiträge waren aus den örtlichen Haushalten bereitzustellen – ein System, das auf staatlichen Subventionen basierte.
Mit der Wende fiel dieses System weg, doch die Schulden blieben. Bei ihrer Gründung im Jahr 1991 war die GWW mit Altkrediten aus dem DDR-Wohnungsbau in Höhe von gewaltigen 107 Millionen DM belastet. Diese „Altschulden“ waren eine enorme wirtschaftliche Bürde, die den Handlungsspielraum massiv einschränkte. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Sanierungs-, Entwicklungs- und Kulturleistungen der GWW in den darauffolgenden Jahren in einem noch beeindruckenderen Licht.
Schlussfolgerung
Die Geschichte des Wohnens in Wernigerode zeigt, dass der Umgang mit dem architektonischen Erbe keine Frage von Abriss oder Nostalgie sein muss, sondern von kreativer Vision und nachhaltiger Transformation. Wernigerodes Weg war nicht die Beseitigung, sondern die durchdachte Weiterentwicklung. Die Geschichte der Stadt lehrt uns, dass eine Plattenbausiedlung ein strategischer Schachzug zur Rettung einer mittelalterlichen Stadt sein kann, dass ein Kino eine Säule im Portfolio einer Wohnungsgesellschaft sein kann und dass die Antwort auf den Verfall nicht immer die Abrissbirne, sondern manchmal die Feder eines Architekten ist.
Das wirft eine zukunftsweisende Frage auf: Was können andere Städte von Wernigerodes Ansatz lernen, die Vergangenheit kreativ umzugestalten, anstatt sie einfach nur zu beseitigen?